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Die Urnerin Leonor Gnos lebt seit Jahren in Frankreich. Aber sie schreibt noch heute über ihre Herkunft: Amsteg. Ihr neuster Gedichtband heisst «Horizont 13», erscheint im Altdorfer bildfluss-Verlag und liest sich wunderbar.

Das erste Gedicht im Buch «Kein Stern zu fern» folgt den vier Lebensstationen von Leonor Gnos. Amsteg, Luzern, Paris, Marseille. «Amsteg im Kanton Uri mein Dorf an der Reuss/fast dem Bristenstock entsprungen dem Berg/in der Vertikale einer Pyramide im steigenden/Licht erscheinen Wälder Lawinentäler Felsen/Spalten die Spitze die in den Himmel wächst/… /am Hügel der Ruine Zwing Uri mein einstiges/einziges Elternhaus geraniengeschmückte Balkone/die Terrassengärten das Ranken der Rebstöcke…».

Leonor Gnos, 82-jährig, findet in diesem Gedicht ihren ganz eigenen Ton. Er klingt weiter und weiter durchs Buch, sie schreibt satzzeichenlos, rhythmisch, die Sprache zur Einfachheit geschliffen, immer wieder ihre Welt verdichtend.

Bitter

Vor 20 Jahren erschien Leonor Gnos’ erstes Werk. Es trägt den Titel «Bristenbitter». Das Buch versammelt einige Geschichten und beginnt ebenfalls in Amsteg: «Im Westen endet das Dorf mit dem Ufer der Reuss. Fast flach schmiegt sich der Boden an den Wasserspiegel, gerade noch ansteigend genug, um Gras und niedere Sträucher zwischen den angeschwemmten Steinen zu tragen. Das Bord ist dort am schrägsten, wo die Reuss vor dem Bristen eine knappe Kurve talabwärts zieht…»

Stets sich wiederholende Erinnerungen? Ja, vielleicht. Aber die Sprache ist in «Horizont 13» eine andere geworden. Das zeigt sich etwa an den folgenden zwei Textstellen. In «Bristenbitter» heisst es: «Östlich hat die Gotthardlinie einen tiefen Schnitt in die Bergflanken gemacht, die Kerbe ins Innere gezogen und wieder über die gewaltige Bachbrücke hinausgeführt, um nach einem zweiten, schmerzhaften Stich in die Waldhänge im Bristen zu verschwinden». In «Horizont 13» beschreibt Leonor Gnos dieselbe Szenerie: «im Osten schneidet die Gotthardlinie in die/Anhöhen zieht die Kerbe in den Windgällentunnel/führt sie über die gigantische Kerstelenbachbrücke/hinaus um nach einem Stich in die Waldhänge/des Bristenstocks zu verschwinden».

Betteln

Der zweite Teil des ersten Gedichts besingt die zweite Lebensstation, Luzern. «Der Vergangenheit anvertraut umso tiefer die/Erinnerung an Orte die ich in mir trage mit den/Konversationen und dem schallenden Lachen am/Ufer des Sees in Luzern wo ich für immer hätte/bleiben können unter dem Kastanienbaum». Leonor Gnos ist nicht geblieben, sondern nach Paris gezogen. Da ist vieles auf ihren Streifzügen durch die Stadt schön, aber nicht alles, und sie fasst das Elend der Strassen in ihre eigenen Worte: «… wenn ich arme bettelnde Menschen/sehe wie sie am Boden liegen mit dem versteckten/Schmerz in den Augen der Flasche in der Hand/sich unter der Achsel kratzen sich wehren gegen/die nasse Hose die Luft und die Löcher in den/Schuhen…». Später im Gedicht heisst es dann einmal: «das Gegenteil von Heimat ist das Elend.» In Marseille, dem vierten Wohnort, erscheinen das Meer und mit ihm die Kreuzfahrtschiffe und die Migranten, die Kirche auf dem Stadthügel und die Steilküste.

Sieb

Das zweite Gedicht «Dekade» fängt Stimmungen ein, innere und äussere, losgelöst von bestimmten Orten, aber stets schwebend zwischen den Erinnerungen ans Heimatdorf und an die Städte, in denen Leonor Gnos gelebt und erlebt hat. Die Sätze pendeln zwischen Tannen und Palmen, zwischen Meer und Bergen. Dabei, so heisst es in dem Gedicht, siebt ihr Gedächtnis Fragmente und daraus werden Zeilen: «Richtung Berge und Meere verbreiten die Winde/zwischen zwei Hemisphären damit Worte/das Schweigen brechen/das Schweigen nicht Worte bricht».

Bob

Das dritte Gedicht im Buch heisst «April» und hat 30 Teile. Sehr direkt wird unter anderem jenes bedrückende Thema angesprochen, welches das auslaufende Jahr bestimmt hat: Corona. Das Virus traf die südfranzösische Stadt Marseille hart: «die Länder tragen die Dornenkrone/im Kampf gegen das Covid-19/das uns absperrt im besten Fall/das Leben lässt/schreibe mir den Schrecken/von der Seele wann sehe ich/meine Lieben wieder». Aber das Gedicht zeigt uns auch die reiche Gedanken- und Seelenwelt der Autorin, unterfüttert mit Zitaten von beispielsweise Bob Dylan oder mit Verweisen auf die dänische Dichterin Inger Christensen oder die französische Künstlerin Sophie Calle. Gleichzeitig hinterfragt sie das eigene Schreiben: «Dichter- Musiker- Maler*innen/wollen intensiv leben/die Erde poetisch bewohnen/als einen deutlich/spür- sicht- und hörbaren Ort».

Mit einem überraschenden Begriff endet eine Zeile in der Mitte des vielteiligen Gedichts. Er zeigt das Gespür von Leonor Gnos für Sprache: «ich grilliere eine Meerbrasse/Essen und Trinken/Gesellschaft im Alleingang/Meinsamkeit». Und erneut verbindet die Dichterin Marseille und Amsteg: «über das Balkongeländer gebeugt/blicke ich den Strassen entlang/Sirocco aus der Sahara/das Gefühl von Föhn und Unruhe/die Corona-Toten mehren sich/meine Nerven ohne Reserve.»

Vier

Ganz anders, aber sprachlich im gleichen Ton ist der vierte Teil des Buchs gehalten. Er ist mit «Quartette» überschrieben und umfasst lauter Vierzeiler. Sie kommen wie Aphorismen daher oder wirken wie japanische Haikus, allerdings nicht mit drei, sondern mit vier Zeilen. Dabei haben die vier Zeilen eines «Quartetts» immer gleich viele Silben, wobei die erste Zeile die Anzahl vorgibt. «Die Stimme im Gedicht stark und sanft zugleich/die Schönheit und das Leid der Welt zu spiegeln/auf der Suche nach dem Herzstück der Dinge/der Innenwelt der Seele dem Seelenschutz».

Leonor Gnos legt mit «Horizont 13» ein grossartiges Buch vor. Es ist vielleicht ihr schönstes und ihr persönlichstes.

Leonor Gnos: Horizont 13, bildfluss-Verlag 2020, Altdorf. Franken 22.-. ISBN: 978-3-9524501- 6-1

(Urner Wochenblatt, 28. November 2020)