Der neue Gotthardtunnel wurde gebaut, damit die Alpen aus dem Weg sind. Man sticht auf gerader Linie durch sie hindurch. Das ist die fantasieloseste Form des Reisens.
Mein Grossvater wanderte sein Leben lang. Wälder und Alpwiesen hatten es ihm besonders angetan. Über den Gotthard ging er ein einziges Mal. Er zog los von Göschenen, leicht vornüber gebeugt wie immer. Die Schöllenen und Hospental hatte er hinter sich. Ein Schafhirt zeigte ihm, wo er weiter aufsteigen muss. Der Grossvater dankte. Auf einmal wurde der Nebel dicht und dichter. Grossvater verlor den Weg. Er wartete und sah nur das Geröll zur Linken und die Matte zur Rechten. Ihm wurde eng. Er rief, aber niemand hörte ihn. Er zögerte, dann ging er weiter, folgte dem inneren Kompass. Es wurde immer steiler. Die eingeschlagene Richtung konnte nicht zum Pass führen. Er stand still in der Nebelstille, hörte das Rauschen der Reuss. Er konnte es kaum orten. Dann erlebte er den Wind, wie er auf einmal den Pass und das Herz freifegte. Beim Hospiz grüsste er kurz, es war schon spät, er wollte hinunter nach Airolo. Er verstand kein Italienisch, aber einen Kaffee, ein Nachtessen und ein Zimmer kriegte er trotzdem. Ein grosses Glück sei diese Wanderung gewesen, pflegte Grossvater zu sagen.
Die Schweiz eröffnet im Juni den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel. Er wurde nicht für die Menschen gebaut, die dort wohnen. Auch sind nicht sie es, die davon profitieren. Er dient den Zentren und begünstigt die globalisierte, arbeitsteilige Wirtschaft, bei der die Hose hier entworfen, der Faden dort gesponnen und der Stoff nochmals anderswo vernäht wird. Der neue Tunnel macht das Urner Reusstal und die Leventina zu dem, als was sie die ökonomisierten Visionen schon heute verächtlich definieren – alpines Brachland. Kein Wunder, muss Uri bereits heute um anständige Zugshalte und den Weiterbetrieb der alten Bahnstrecke kämpfen. Die Randregion wird noch randständiger.
Doch nun lässt die Schweiz vor den Tunnelportalen feiern. Der Gotthard wird dabei historisch, kulturell, touristisch, geografisch, geologisch und bautechnisch gründlich ausgeleuchtet. Die Regionen dürfen zeigen, was sie zu bieten haben. Der sogenannte Mythos Gotthard wird beschworen, wobei der Beschwörungsgrad zunimmt, je weiter weg die Beschwörer ihre Prospekte bedrucken. Das Ausland soll staunen und sich verneigen: Wir sind stolz, wir sind Gotthard. So weit so gut.
Nach der Eröffnung spielt es für die Durchreisenden keine Rolle mehr, wo sie sind. Der Tunnel wird alle Aussichten, Farben, Melodien, Schneefelder, Bannwälder, Runsen, Bergblumen, Höfe, Abhänge, Gerüche, Geräusche, Bäche, Heuwiesen, Kunstwerke, Heimetli, Steine, Gesichter, Stimmen, Rutsche, Felswände, Kirchen und Kirchlein, Strassen, Föhnwalzen eliminieren. Werden die Transitpassagiere noch verstehen, was die Menschen dort bewegt, was sie denken, wie sie leben? Dass sie kleinräumig wirtschaften müssen, um eine Zukunft zu haben? Der Gotthard wird nur noch als Transitfläche benutzt werden. Der Rest wird nicht mehr vorkommen. So gesehen ist es eine Art Abschiedsfest, was da zur Eröffnung des neuen Bahntunnels inszeniert wird.
Der neue Tunnel beschleunigt die Reise entscheidend. Es geht schneller, man spart Zeit. Merkwürdigerweise wird einem dabei die Zeit trotzdem immer knapper. Was kannst du nach 57 Kilometer Dunkelheit erzählen? An was wirst du dich erinnern? Der Tunnel selber wird über kurz oder lang von den Reisenden nicht mehr beachtet werden. Der Tunnel verdichtet die Distanz zu einem einzigen Loch, der Gotthard verschwindet. Das ist ein brutaler Zugang zu diesem alpinen Zentralmassiv. Dem Gotthard ist das wahrscheinlich egal. Er ist weiter da für jene, die dort leben oder wie Grossvater langsam unterwegs sind. Das ist ein Glück.
041 Das Kulturmagazin Juni 2016 (PDF)