Die Grube Lengenbach im Binntal gehört zu den mineralienreichsten Orten der Welt. Seit Jahren bemühen sich Wissenschaftler und Sammler um die legendäre, äusserst ergiebige Fundstelle, darunter Ralph Cannon, Thomas Raber und Philippe Roth. Ihre Schätze stehen selten in Vitrinen, sondern sie liegen in Schubladen – meist sind sie winzig, aber häufig exklusiv und ästhetisch äusserst ansprechend.
Fachsimpeln können die drei Lengenbach-Experten stundenlang. Wer ihnen zuhört, kann nur staunen, welch grosses Wissen sie sich angeeignet haben. Ralph Cannon ist eigentlich Grafiker und Fotograf und stammt aus Kassel in Deutschland. Thomas Raber lebt in Freiburg im Breisgau und arbeitet in der Pharmaindustrie. Philippe Roth ist Seismologe in Zürich. Aber die drei sind in den Sommermonaten sehr oft im Binntal anzutreffen. Die Mineralienvielfalt der Grube hat es ihnen angetan.
170 verschiedene Mineralien sind inzwischen aufgelistet, die im Lengenbach vorkommen. 48 davon wurden weltweit erstmals hier entdeckt, unter anderem der Lengenbachit, der Wallisit und der Tennantit-(Zn) oder Binnit. Zu verdanken ist dies dem unermüdlichen Forschergeist, der seit Jahren Leute wie Ralph Cannon, Thomas Raber und Philippe Roth antreibt. Drei Mineralarten sind nach ihnen benannt: Ralphcannonit, Raberit, Philrothit. Sie sagen: «Wir stehen auf Schultern von Riesen, die vor uns hier geforscht haben.»
Eine lange Geschichte
Bereits um 1730 hatten Engländer beim Lengenbach einen Sondierstollen gegraben mit dem Ziel, die Eisenerze des Binntals abbauen zu können. Erst 100 Jahre später nahm sich die Wissenschaft des Lengenbachs richtig an. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sank das Interesse, aber nach 1958 setzten die Forscher ihre Tätigkeit fort. In dieser Zeit prägte unter anderem einer dieser oben erwähnten «Riesen» die Entwicklung: Stefan Graeser, aufgewachsen im Binntal und ehemaliger Professor für Mineralogie an der Universität Basel. Er hat während über 50 Jahren die Forschungsarbeit wissenschaftlich verantwortet und viele neue Mineralarten beschrieben. «Stefan Graeser hat den Grundstein gelegt für die Arbeit, die wir heute machen», sagt Philippe Roth.
Heute betreibt die Forschungsgemeinschaft Lengenbach (FGL) die Grube. Sie finanziert den Abbau, der ausschliesslich der Wissenschaft dient und keine kommerziellen Zwecke verfolgt. Unterstützt wird die FGL finanziell von der Gemeinde Binn, dem Musée cantonal de géologie in Lausanne sowie vom Verein Freunde Lengenbach (VFL) mit seinen 80 Mitgliedern. Vor der FGL kümmerten sich die Arbeitsgemeinschaft Lengenbach und später die Interessengemeinschaft Lengenbach um die Mine. Während 41 Jahren war auch die Berner Burgergemeinde dabei, die heute die grösste Lengenbach-Sammlung besitzt. Die ETH Zürich, die ebenfalls 10 Jahre Mitglied war, wiederum hat eine ansehnliche Sammlung mit Mineralien, die im 19. Jahrhundert im Lengenbach gefunden worden sind.
Per Los zum Glück
Die Grube ist einzigartig im Alpenraum. Sie ist weltbekannt für sulfidische, arsenreiche Blei-Zinkvererzungen und ihre Thallium-Mineralien. Nirgends auf der Welt trifft man auf so kleiner Fläche so viele Mineralien an wie im Lengenbach. Einst waren die universitäre Wissenschaft und die Museen stark an der Ausbeute interessiert. Sie wollten immer wieder neues Material, um die Mineralogie der Alpen besser verstehen zu können. Heute ginge in der Grube nichts mehr, wenn nicht die FGL mit ihrem Dutzend Mitglieder ideell und finanziell hinter dem Abbau stünde. Ihr Lohn: der Spass am Entdecken und die Teilhabe an der Ausbeute. Wie muss man sich das vorstellen?
Ralph Cannon arbeitet als fest angestellter technischer Leiter von Juni bis Oktober im Lengenbach. Er sprengt, wo nötig, den Fels und zerlegt von Hand die abgebauten Blöcke in viel kleinere Einheiten. Dabei untersucht er unter dem Binokular das Gestein und macht daraus einzelne Proben. Die Stücke werden dann bestimmt, in Schächtelchen abgelegt und genau etikettiert; es wird verzeichnet, wann das Material gefunden wurde, aus welcher Zone der Grube die Probe stammt, von welchem Abbauniveau usw. Seit Beginn haben die Forscher im Lengenbach das Material auf diese Weise dokumentiert. So kann mit der zugeteilten Nummer jedes Stück identifiziert werden. Eine solche Nummer lautet beispielsweise «L-19-8551 Lot 37 PW20 Dufrénoysit Realgar» oder «L-19-8664 Lot 48 PW 10 Lengenbachit» – seit 1958 wurden rund 35’000 solcher Mineralienmuster katalogisiert. Diese einzelnen Proben werden dann den Mitgliedern der FGL im wahren Sinn des Worts zugelost – damit ist eine gerechte Verteilung gesichert.
Dass bereits im 18. Jahrhundert säuberlich registriert wurde, was die Grube hergibt, belegt eine Etikette im Naturhistorischen Museum Basel. Auf ihr wird dokumentiert, dass im Lengenbach Realgar, Auripigment und Dolomit gefunden wurden. Heute wird, wie erwähnt, weniger Material abgebaut als noch vor Jahren – waren es früher zwischen 100 und 120 m3, so sind es heute zwischen 40 und 50 m3 pro Jahr. Hingegen kann das Gestein dank moderner Technik unterdessen viel exakter untersucht werden, die Wissenschaftler sind untereinander besser vernetzt und vermelden immer wieder erstaunliche Resultate, indem sie zum Beispiel in alten oder neuen Proben Mineralien entdecken, die bislang unbekannt waren.
Rund 500 solche Proben gibt es im Schnitt pro Jahr, manchmal sind es aber auch nur 250 wie beispielsweise 2019, als sehr viel Pyrit gefunden wurde, der zwar schmuck auf dem weissen Dolomit sitzt, aber mineralogisch nicht mehr besonders interessiert.
Die Halde als Fundgrube
Philippe Roth, Thomas Raber und Ralph Cannon bauen ihre Sammlungen nicht nur mit dem per Los zugeteilten Material auf, das sie gründlich analysieren. Sie tauschen auch Stücke mit anderen Begeisterten, kaufen Stücke aus Sammlungsauflösungen und halten auf internationalen Börsen nach historischen Funden aus alten Museumsbeständen Ausschau.
Vor ihrer Zeit in der FGL waren sie wie so viele Sammler auf jenem Klopfplatz aktiv, der vor der Grube liegt und für alle frei zugänglich ist. Und der ist nicht ohne. «Den besten bekannten Sicherit habe ich auf der Halde gefunden», sagt etwa Philippe Roth, der früher nur dort nach Mineralien Ausschau hielt, bis er dann 2003 Mitglied der FGL wurde.
Den mineralreichen Ort hat man einst wohl deshalb entdeckt, weil der Lenge Bach, wie der Bach gemäss Landestopographie korrekt heisst, hier die senkrecht stehende Dolomitzone anschneidet – ein natürlicher Aufschluss also. Heute wird einige Meter daneben abgebaut, ein unauffälliger Einschnitt in der Landschaft. Die eigentliche Mineraliengrube ist durch ein Gitter abgesperrt. Dort zeugt auch ein Betonbau mit grosser Tür von der menschlichen Tätigkeit. Die Tür aber ist ohne Kletterei nicht erreichbar – die Halle, die sich dahinter verbirgt, war als Ausstellungsraum gedacht und dient heute als Lagerraum.
Um zum spannenden Material in hellen, zuckerförmigen Trias-Dolomit zu gelangen, muss die FGL immer wieder Moränenschutt abtragen oder Lawinenschnee wegräumen. Geplant ist, die jetzige Abbaustelle aufzufüllen und etwas östlich davon weiter zu graben. Es ist jedoch ungewiss, wie lange dort noch gutes Material abgebaut werden kann. Unterdessen aber geschieht das noch zur Freude all jener, die sich von der Grossartigkeit der kleinen Mineralien begeistern lassen.