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Nach heftigen Unwettern löste sich im Juni 1910 im Bannwald ob Altdorf eine Rüfe. Sie zermalmte das Haus der Familie Ziegler auf Brunegg. Die Mutter und elf Kinder starben, die beiden Buben Johann und Eduard überlebten. Sie blieben zurück, zusammen mit Vater Josef und der ältesten Schwester Agnes. Das Unglück hat die Familie dauerhaft entzweit.

Heute erinnert ein Stein mit Tafel an das Unglück. Unweit davon steht ein Haus. Josef Ziegler, genannt „Kapuzinersepp“, hat es auf dem gleichen Grundstück und an der fast gleichen Stelle wieder aufgebaut, wo 1910 die Rüfe seiner Familie zwölffachen Tod gebracht hat. Im Garten verliert sich eine Treppe im Grün. Der Zonenplan der Gemeinde Altdorf belegt dieses Gebiet mit einem Bauverbot, Gefahrenzone rot. Mehrmals schon mussten die Bewohner seither bei starken Niederschlägen das Haus verlassen. Letztmals bei den Unwettern von 2005.

Bäche verhindern Flucht

Wie gross muss die Angst der Mutter und ihrer Kinder gewesen sein in jener fatalen Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1910. Der Vater, Briefträger von Beruf, hatte Nachtdienst bei der Post und war in Altdorf unten. Agnes, die älteste Tochter, diente in Flüelen als Magd. Es regnete ohne Unterbruch. Auf beiden Seiten des Hauses floss plötzlich Wasser den Hang hinab. Es wuchs zu wilden Bächen. Wie hätte die Mutter mit den dreizehn Kindern fliehen können? Keines war älter als 16, das jüngste sechs Monate. Zweimal soll sie es in dieser Nacht versucht haben. Dann sassen wohl alle beieinander in der Stube, die Schuhe geschnürt, bang, betend, hoffend. Hat die Mutter die Anni mit den zwei Buben Johann und Eduard ins hintere Zimmer geschickt, weil sie so müde waren? Bildeten feste Mauern einen Hohlraum?

Als der erste Retter auf dem Schuttkegel zu suchen begann, hörte er Kinderstimmen nach Anni rufen. Es waren die Stimmen von Johann und Eduard. Johann war fast fünf Jahre alt, Eduard noch keine zwei. Sie waren unversehrt. Anni, das 14-jährige Mädchen, wurde schwer verletzt geborgen. Die Rüfe hatte ihr den Rücken gebrochen und die Brust eingedrückt. Nur noch den Kopf und einen Arm konnte sie bewegen, als sie gefunden wurde. Wenige Stunden später starb sie im Spital von Altdorf. Ganz zugedeckt hatte die Steinlawine die zehn Geschwister und die Mutter Paulina, geborene Mattli. Man fand die Mutter mit zwei Kindern in den Armen, erdrückt von Steinen, Schlamm und den Haustrümmern. Das „Urner Wochenblatt“ schrieb, die Mutter habe die Lebensgefahr nicht genügend erkannt. „In Gottvertrauen beten sie den Rosenkranz, statt das Häuschen zur rechten Zeit zu verlassen.“

Regen unterspült Geröll

Das Haus der Zieglers stand unweit des Kapuzinerklosters. Es galt als nicht besonders gefährdet. Der gewohnte Ribizug ging höher durch und fuhr weiter nördlich dem Talboden zu. Zwar stürzten immer wieder Felsbrocken durch den Bannwald, es klafften Furchen zwischen den Bäumen, der Berg ängstigte fast ständig. 1286 soll eine Rüfe, die sich im Wald gelöst hatte, mehrere Menschen in Altdorf getötet haben, unter anderem den Prediger auf der Kanzel. Die Behörden liessen daraufhin aufforsten, verboten das Holzen und untersagten es, Geissen und Schafe frei laufen zu lassen. Sie wussten um die Gefahren, die vom steilen Hang ausgingen.

Im Juni 1910 unterspülte der grosse Regen aber Geröll und Erde und brachte das lose Material ins Rutschen. Es hatte sich in einer Rinne oberhalb von Brunegg über die Jahre hin abgelagert. Die mächtige Rüfe traf das Haus der Zieglers präzis und mit voller Wucht. Die Gaden auf der linken und der rechten Seite nahmen keinen Schaden. Ein dramatischer, ein unwirklicher Anblick. Im „Urner Wochenblatt“ war zu lesen: „Schon zweimal hatte sich oberhalb des Hüttleins eine Ribi losgelöst und war durch den allzu stark gelichteten Wald gegen das Häuschen vorgedrungen; der dritte Stoss erreichte das Häuschen, hob es ab den Mauern und begrub die Mutter samt 13 anwesenden, betenden Kindern unter Schutt und Trümmern.“

Uri spendet Geld und Kleider

Die Feuerwehr von Altdorf, Kirchenarbeiter aus Flüelen, Leute aus Altdorf suchten in den Schuttmassen nach den Vermissten. Acht Särge standen bereit, die schliesslich in ein gemeinsames Grab gesenkt wurden. Das „Wochenblatt“ berichtete über die Beerdigung. “Mögen die 12 Unglücklichen, die auf so schauerliche Weise das Leben verloren, zum ewigen Leben erstehen. Die Hinterlassenen aber tröste Gott und der Menschen Mildherzigkeit.“ Letzteres geschah, indem die Gemeinde und die Lokalzeitungen zu Geld-, Kleider- und Möbelspenden aufriefen. Auch die Pöstler trugen Geld für den Kollegen zusammen. Mit der eilig hergestellten Broschüre „Die Wassernot im Kanton Uri“ wurde der bevorstehende 1. August als Tag der werktätigen Nächstenliebe beschworen. Die Zeitungen vermeldeten die Spenden: 50 Franken, 20 Franken, 10 Franken, 5 Franken, 3 Franken.

Viele Menschen machten sich auf zur Brunegg. Die einen schauten und schauderten. Andere stahlen Kirschen vom Kirschbaum, der aus dem Schutt ragte. Selbst fremde Herrschaften sollen sich am Baum gütlich getan haben. Es kamen auch Leute, die nach brauchbaren Gegenständen und Brettern wühlten. Gleich wie die überlebenden Zieglers, die nach Habseligkeiten suchten. Viel Brauchbares haben sie nicht gefunden, zu massiv hat das Geschiebe ihr Haus überfahren. Berichtet wird, dass einige der Schaulustigen mit Steinen nach umherirrenden Hühnern warfen. Und es ging das Gerücht, die Kapuziner hätten in der schlimmen Nacht nichts zur Rettung der Familie unternommen. Sie waren ins Dorf geflüchtet, die Rüfe hatte beim Kloster ein Tor eingedrückt. Es heisst aber auch, dass der „Kapuzinersepp“ nach dem Unglück bei ihnen hatte unterkommen können.

In der Broschüre „Die Wassernot im Kanton Uri“ steht: „Mit ausreichenden Talsperren und Verbauungen kann die Gefahr sozusagen gänzlich beseitigt werden. Verbauungen waren schon seit Jahren geplant, allein man versparte sie angesichts der stets wachsenden Aufgaben der Gemeinde und bei der trügerischen Sicherheit, in welche etliche ruhige Jahre uns eingewiegt, auf später.“

Die Rüfe trennt die Brüder

Die Urnerinnen und Urner spendeten. Mit dem Geld konnte Josef Ziegler ein neues Haus auf Brunegg bauen. Nach 11 Jahren heiratete er ein zweites Mal. Bis dahin hatte er alles Geld aufgebraucht. Seine Frau brachte neues. Was geschah damit? Die Ehe taugte nicht viel, man stritt hässlich und aktenkundig. Der „Kapuzinersepp“ lag auch im Streit mit seinem Sohn Johann, der das Unglück überlebt hatte. Josef Ziegler wurde schliesslich fürsorgeabhängig. Waren der Alkohol schuld, falsche Freunde, oder die Streitereien, die ihn vollends überforderten?

Um den Konflikt mit Johann nicht eskalieren zu lassen, besorgte man ihm eine Arbeitsstelle ausserhalb des Kantons. Eduard verliess die Brunegg ebenfalls. Die beiden Brüder lebten sich auseinander, stritten, hatten keinen Kontakt mehr zueinander bis kurz vor ihrem Tod. Der Riss, der sich zwischen den beiden Brüdern bildete, verläuft innerhalb der Familie bis in die jüngste Generation. Heute wohnt ein Enkel von Josef Ziegler in dem Haus auf Brunegg. Er, Eduard Ziegler jun., ist der Sohn von Eduard Ziegler, der das Unglück von 1910 überlebt hatte. Sein Sohn wiederum, Urenkel Emil Ziegler, ist mit seinen drei Geschwistern in dem Haus aufgewachsen. Er wohnt inzwischen im Dorf unten. Beim Unwetter 1977 musste die ganze Familie das Haus in der Nacht blitzartig verlassen. Sie fand Zuflucht im Kloster. Er könne sich nicht mehr vorstellen, auf Brunegg zu wohnen, sagt Emil Ziegler.

Josef Ziegler ist 1948 gestorben. Er hat gegenüber seinem Sohn Eduard und Enkel Eduard jun. jene schreckliche Nacht praktisch nie erwähnt. Eduard hielt es ebenso, Eduard jun. auch. Für ihn war das Unglück geschehen und vorbei, er hat nie Fragen gestellt. Urenkel Emil erinnert sich, wie sein Grossvater – wenn er überhaupt etwas preisgab – mit grosser Verbitterung und Traurigkeit von seiner Jugend erzählt hat.

Nachtrag: Das Rekordhochwasser

Die Rüfe vom Juni 1910 in Altdorf wurde durch Extremniederschläge ausgelöst. Die ganze Schweiz vermeldete damals äusserst heftige Unwetter. In Uri richteten sie in fast allen Gemeinden Schäden an. Es wurden Tagesmengen von bis zu 200 mm Regen erreicht. Ein ausserordentlicher Wert. Der Vierwaldstättersee stieg so hoch wie seither nie mehr. Er erreichte die Marke von 435.25 m. ü. M. Der See überflutete Flüelen, die Stadt Luzern und andere ufernahen Gemeinden. Der Schächen führte riesige Mengen an Geröll mit sich. Es blieb im Unterlauf liegen und staute das Wasser. Gewaltig verliess der Bach sein Bett und richtete bis Altdorf grosse Schäden an.

Gleiche Extremniederschläge wurden bei den Unwettern gemessen, die sich 2005 unter anderem über der Innerschweiz entluden. Trotz Verbauungen trat der Schächen erneut über die Ufer, in Engelberg wurde die Strasse weggerissen, der Schweizerhofquai in Luzern stand unter Wasser. Der Seespiegel erreichte die Marke von 435.23 m. ü. M, zwei Zentimeter weniger als 1910. Der mittlere Wasserstand des Vierwaldstättersees liegt bei 433.58 m. ü. M.

Der Kanton Uri wurde in den vergangenen 100 Jahren wiederholt von schweren Unwettern heimgesucht: 1910, 1977, 1987, 2005. Gemäss Gebäudeversicherung des Kantons Luzern hat die Häufigkeit schädigender Hochwasser des Vierwaldstättersees in den letzten gut 50 Jahren stark zugenommen: 1952, 1953, 1970, 1999, 2005. Dank des neuen Nadelwehrs in der Stadt Luzern, das zurzeit gebaut wird, soll sich der Seepegel künftig besser regulieren lassen. (tob)

Urner Wochenblatt, 12. Juni 2010 (PDF)