Kinder, die in Heimen litten. Kinder, die wegen eines angeblichen Bundes mit dem Teufel hingerichtet wurden. Immer wieder Kinder, denen niemand zugehört hat. Edwin Beeler rückt in seinem neuen Film «Hexenkinder» ganz nah an die Menschen. Und er kehrt zurück zu seinem Anfang: dem anwaltschaftlichen Dokumentieren und dem Einfordern von Gerechtigkeit.
Der Film beginnt mit einer Winterlandschaft, einem trudelnden Flugzeug, sanften Wellen – und in der Wallfahrtskapelle im Riedertal. Man sieht sich plötzlich dem Jüngsten Gericht gegenüber, das 1600 an die Wand gemalt worden ist. Diese brutale Drohgebärde, mit der die Kirche die Menschen auf den rechten Weg führen wollte, gibt den Tarif an und wirkt durch den ganzen Film hindurch. Sechs Heimkinder erzählen, wie sie in christlichen Waisenhäusern in der Mitte des 20. Jahrhunderts erzogen, verbogen, missachtet, verängstigt und körperlich und seelisch aufs Ärgste malträtiert worden sind. Diese Pädagogik hatte System. Sie wollte den vermeintlich sündhaften, sittlich verwahrlosten, schwierigen Kindern doch noch das Seelenheil bringen.
Da ist MarieLies Birchler, der die Nonnen während 11 Jahren im Waisenhaus in Einsiedeln eingetrichtert haben, sie sei vom Teufel besessen. Bis sie es selber geglaubt hat. Oder da ist Sergio Devecchi, der vom Vater verleugnet und von der Mutter verstossen in verschiedenen Heimen aufgewachsen ist. Er sah seinen Vormund nur ein einziges Mal und er wagte sich nicht zu wehren, als er vom Sohn des Heimleiters missbraucht wurde. Körperstrafen waren an der Tagesordnung. Oder Annemarie Iten-Kälin, die als Vollwaise in Heimen dafür büssen musste, weil sich ihr Vater umgebracht und damit gesündigt hatte. Oder Willy Mischler, der im Kinderheim erleben musste, wie ihm die Nonnen mit der Dusche direkt ins Gesicht spritzten, bis er nicht mehr atmen konnte und Todesängste auszustehen hatte. Er sagt im Film: «Eine unbeschwerte Jugend ist ein Menschenrecht»
Edwin Beeler hört im Film zu – etwas, was diese Kinder im Heim nie erlebt haben. Edwin Beeler ist nicht der Historiker, der möglichst viele Akten und Daten sammelt. Er ist auch nicht der Spielfilmemacher, der den Stoff zu einer Geschichte webt. Er ist auch nicht ein Ankläger, sondern Edwin Beeler ist der Dokumentarfilmer, der in der Tradition von oral history festhält, wie die Protagonisten ihre Zeit in den Waisenheimen in Worte fassen. Erschreckend dabei ist die riesige Diskrepanz zwischen dem Erzählten und dem, was in den schriftlichen Unterlagen über die Heimunterbringung festgehalten ist. Die zwei Menschen, jener in den Akten und jener, der erzählt, haben nichts miteinander zu tun. Gezählt hatte damals nur, was den Kindern in den Dokumenten offiziell zugeschrieben worden ist.
«Ich wurde sehr direkt auf das Schicksal der Cathrin Schmidlin angesprochen, jenes 11-jährige Mädchen aus Romoos, das vorgab, Vögel machen zu können und dann 1652 hingerichtet wurde», sagt Edwin Beeler. Er habe dann andere solche «Hexenkinder» gesucht und kam zum Schluss: «Die Mentalität mit dem Bestrafen hat System, damals bei den Hexenkindern und bei den Heimkindern des 20. Jahrhunderts.» Hier will Edwin Beeler Gerechtigkeit schaffen, hier ergreift er Partei für die Betroffenen. Wie bei seinem Erstling von 1984 «Rothenturm – Bei uns regiert noch das Volk».
Der Film berührt und verstört in seiner Direktheit. Beruhigend und versöhnend ist er in den Naturaufnahmen. Die Natur als realer Zufluchtsort, die Natur als Spiegel der Seele, und die Seele der Landschaft wird zur Seele der Menschen, die in ihr wohnen. Hier liest man Edwin Beelers unverwechselbare, grossartige Handschrift.