Select Page

Das Künstlerduo Chalet5 zeigt in Altdorf im Haus für Kunst Uri eine grandiose schwarze Wurzel. Sie ist 20 Mal grösser als das Original. Seit kurzem wohnen Karin Wälchli und Guido Reichlin in Göschenen.

Beim Gang durch die Ausstellung «Zuhause ist auswärts und auswärts ist zuhause» reden beide über ihre Werke, einander ergänzend, nahtlos in den Übergängen, gradlinig. Seit 1995 arbeiten Karin Wälchli und Guido Reichlin zusammen. Sie markieren nicht, wer was malt oder fertigt. Chalet5 ist der Absender. «Malerei feiert den einzelnen Autor, wir sind zu zweit und Chalet5 ist etwas Drittes», sagen sie.

Ihre Lust aufs Entdecken von Ornamenten und Formen sowie aufs Spiel mit kunsthistorischen Fragmenten und kruden Alltagsobjekten scheint unerschöpflich. Sei es in Kairo oder Indien, wo sich die beiden Kunstschaffenden länger aufgehalten haben, oder eben jetzt in Göschenen und Altdorf. Nein, sie sind nicht geflohen aus der grossen Stadt, sondern die Neugier auf die andere Umgebung liess sie in die Urner Bergwelt ziehen. Und das nach 14 Jahren in einem Loft im Kreis 4. Nun wohnen sie im Dachstock des Schulhauses, das Atelier unweit davon ist fast fertig.

Erstmals haben sie die Kraft des Orts 2016 bei einem Atelieraufenthalt im «Kunstdepot Göschenen» erlebt. Diese Stiftung des Zugers Christoph Hürlimann lädt regelmässig internationale Kunstschaffende ins ehemalige Zeughaus in Göschenen ein. «Wir haben in Göschenen gefunden, was wir in Zürich nicht hatten. Hier können wir uns auf die Malerei einlassen wie noch nie.» Malerei, sagen sie, sei heute zum Herzstück ihres künstlerischen Schaffens geworden. Obwohl Göschenen heute für sie inspirierender ist als Zürich, brauchen sie die Stadt weiterhin – wegen der Kontakte und auch wegen der Galerie, die Chalet5 vertritt. «Dass wir nach Göschenen gezogen sind, ist ein Statement für unsere künstlerische Arbeit.»

Eine rostige Tür betrachten

Bereits 2016 hatten Karin Wälchli und Guido Reichlin im Rahmen der Gruppenausstellung «Dall’altra parte» im Haus für Kunst Uri einige ihrer Werke gezeigt. In der aktuellen Schau in Altdorf sind ältere Arbeiten wie beispielsweise verblüffende Collagen, die durch Versatzstücke aus wissenschaftlichen Zeitschriften eine neue Wirklichkeit entstehen lassen, und neuere Werke zu sehen. Eigens für Uri geschaffen wurde die Arbeit im Aussenraum. Da stehen Trennwände für den helvetischen Gartensitzplatz aus dem Jumbo-Markt, gefertigt aus polnischem Kiefernholz und original beschriftet mit Namen wie Marseille, Venezia, Bilbao – Trennwände als emotionale Vermittler zwischen Heimat und Ferne, zwischen Innen und Aussen, Trennwände als Generator für fremdheimatliche Gefühle? Eine irritierende Arbeit. Dem Duo sind die Wände während der Vorbeifahrt beim Jumbo-Markt in Schattdorf aufgefallen. Sie wurden dort abgebaut und jetzt 1:1 vor dem Haus für Kunst hingestellt. Die Arbeit trägt den Titel «Das schrumpfende Königreich».

Dass das unscheinbare Alltägliche zum ästhetisches Objekt wird, sobald es Chalet5 aus seiner Umgebung herausholt und im leeren Raum in Szene setzt, zeigt sich auch an einem anderen Objekt: Eine massive Metalltüre, von Rost zerfressen und entsprechenden Fliesspuren gezeichnet, hängt quer an einer Wand. Es ist die Türe zum sogenannten Richtstollen, den der Gotthardtunnelerbauer Louis Favres in den Fels getrieben hatte. Sie stand in Göschenen herum, Karin Wälchli und Guido Reichlin haben sie entdeckt, sich bei Einheimischen erkundigt und die Tür schliesslich nach Altdorf gebracht. Chalet5 hat also gesehen, was viele andere auch sehen, aber die beiden stellen eine neue Wirklichkeit her, indem sie das Objekt aus seiner Umgebung herausholen und den ihm eigenen Wert zeigen – ein eindrücklicher künstlerischer Eingriff.

Kein Mikroskop schafft das

Und dann das grosse schwarze Wurzelstück im Haus. Raumfüllend, bedrohlich, gleichzeitig Unterschlupf gewährend. Eine kraftvolle Arbeit, die eine unglaubliche Präsenz entwickelt. Was tut es zur Sache, dass Chalet5 das Wurzeloriginal im Wald bei Göschenen gefunden hat? Nichts. Aber es zeigt, was die Urner Natur mit den beiden Kunstschaffenden gemacht hat: Sie wurden aufmerksam auf einen Baumrest, der – in zwanzigfacher Vergrösserung – die natürliche Struktur, die tierähnlichen Formen und die natürliche Schönheit des Holzes so deutlich zur Geltung bringt wie kein Mikroskop auf dieser Welt.

Chalet5 setzt sich im Haus für Kunst auch mit einem Bild des Urner Malers Heinrich Danioth (1896-1953) auseinander. «Das Mädchen im Garten – Rigi» ist ein fast pointillistisches, anschmiegsam liebliches Bild. Es hängt links und auf die Wand gegenüber haben Karin Wächli und Guido Reichlin Streifen aufgemalt – senkrecht und leicht schräg, ein buntes Spiel, das die floralen Strukturen und die Farben in Danioths Bild aufnimmt und in den Überschneidungen leicht variiert. Eine spannende temporäre Freske im Dialog mit einem kunsthistorisch bemerkenswerten Bild.

In Erstfeld sich hinstellen

Mit dem Langzeitprojekt «Karin steht dazu» stellt Chalet5 ebenfalls einen direkten Bezug zu Uri her. Die Fotoarbeit zeigt, wie Karin Wälchli neben Alltagsarchitektur steht, die überraschende Farben und Muster zeigt, sobald man richtig hinschaut. Genau diesen neuen Blick wollen die Fotos wecken – nicht Selfie-Personenkult, sondern geschärfte Aufmerksamkeit auf die Schönheit des scheinbar Unschönen, auf die Besonderheit des scheinbar Gewöhnlichen. Eine Abfolge von 500 Bildern aus Kairo und Indien und eben auch aus Uri ist im 2. Stock zu sehen – auf einem steht Karin Wälchli auf dem Bahnhofgelände von Erstfeld. 

In ihrer Malerei beschäftigen sich Karin Wälchli und Guido Reichlin vor allem mit dem Verhältnis von Tierischem und Pflanzlichem, den fliessenden Übergängen der hybriden Formen, von Figürlichem und Abstraktem. Sie zitieren auch immer wieder aus der Kunstgeschichte. Dank weisser Flächen scheinen dabei die Bilder oft auf die Wand auszufliessen. Dieses Prinzip durchbricht Chalet5 auf subtile Art und Weise. Statt an einer weissen Wand hängen in einem Raum die Bilder vor lilagrauem Hintergrund: Das Lilagrau wiederum nimmt die Farbe des Bahnhofs von Göschenen auf.

Nach Göschenen ziehen sei fast wie Auswandern, sagen die beiden Kunstschaffenden. Sie wurden gut aufgenommen worden und fühlen sich keineswegs isoliert. Mittlerweile werden sie von vielen im Dorf erkannt und entsprechend gegrüsst. 30 Göschenerinnen und Göschener kamen zur Vernissage ins Haus für Kunst nach Altdorf. Chalet5 hat sich gefreut über den Austausch mit den Leuten. «Mit der grossen Wurzel haben wir auch gezeigt, was uns hier in Göschenen umtreibt und künstlerisch beschäftigt.» Ja, das haben sie.

041 Kulturmagazin, November 2018 (PDF)