Abraham Wettstein ging von Tür zu Tür und versuchte, seine Ware zu verkaufen. In Stans wurde er 1866 von der Polizei festgenommen, misshandelt und abgeschoben. Sie vermutete in ihm einen Betrüger – weil er Hausierer war und nicht sprach. Ein Blick in den Aktenschrank.
Warum sollen wir von Abraham Wettstein berichten? Weil im Zürcher Staatsarchiv interessante Dokumente lagern, die kaum beachtet werden? Oder weil die Zürcher Zeitung – die Vorgängerin der NZZ – umgehend von einem rohen, barbarischen Akt sprach, der da in Stans passiert sei? Ganz sicher zeigt der Fall, dass es schon vor über 150 Jahren Vorurteile gegenüber Randgruppen und nicht milieukonformen Menschen gab. Und dass man sich schon damals dagegen gewehrt hat.
Der deutsche Schriftsteller Berthold Auerbach schrieb 1861 von der Rigi aus einen Brief an einen Freund: „Heute war ein Händler da, eine markige Gestalt, gedrungen, geht stets barhaupt und spricht, niemand weiss warum, seit zwölf Jahren kein Wort mehr und verschenkt alles, was er verdient. Er heisst Abraham Wettstein und als ich ihn nach seiner Religion fragte, schrieb er auf: ‚Ich suche und habe, was alle Menschen suchen und haben wollten‘.“
Man muss nicht alles wissen
Abraham Wettstein kam am 13. Februar 1816 in Veltheim bei Winterthur zur Welt. Als es sieben Jahre alt war, starb seine Mutter, als er 10 war, verlor er den Vater. Er hatte mehrere Geschwister und begann eine Lehre bei einem Schneider, brach sie aber bald ab. 1856 taucht er als Hausierer auf, zuerst im Kanton Zürich, dann in der ganzen Deutschschweiz. Verschiedene Zeitungen und Kalender beschrieben ihn zu jener Zeit als breitschultrigen Mann mit kurz geschorenem Haar und einfacher schwarzer Kutte, die bis zu den Schuhen reicht. Auf dem Rücken trage er ein Hausiererbündel, das oben mit Schnüren eng verschlossen sei.
„Gleich einem Kartäuser-Mönch hatte er sich ewiges Schweigen auferlegt“, teilte der Appenzeller Kalender seiner Leserschaft 1877 mit, ein Jahr nach dem Tod von Abraham Wettstein. Selbst im Sterben habe er nicht gesprochen. Auf die Frage, warum er schweige, habe er jeweils schriftlich geantwortet: „Man braucht nicht alles zu wissen.“ Damit hatte Abraham Wettstein zwar recht, aber er befeuerte die Spekulationen. War es eine unglückliche Liebschaft, die ihn schweigen liess, war es, weil er Freimaurer gewesen war und Geheimnisse verraten hatte, war es, weil er auf diese Weise ein unentdeckt gebliebenes Verbrechen sühnte? Gerüchte verbreiten sich leicht auf Kosten eines Sonderlings.
Hausierer kennt man heute kaum noch. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein jedoch gehörten sie zum städtischen und vor allem dörflichen Alltag. Sie lebten meist in prekären Verhältnissen und hatten keinen besonders guten Ruf. Deshalb brachten die Leute an ihren Häusern häufig ein Schild mit der Aufschrift „Betteln und Hausieren verboten“ an. Dabei verkauften die Hausierer nur Schuhbändel, Bürsten, Rasierzeug, Seifen, also ganz alltägliche Dinge für einen Haushalt. Aber eben, die Hausierer waren Randgestalten, immer etwas verdächtig und in der Regel weder bei den Behörden noch bei der Bevölkerung beliebt. So notierte seinerzeit das Katholische Sonntagsblatt, die Leute hätten sehr unterschiedlich auf Abraham Wettstein reagiert: „Bald ist es Verwunderung, bald ist es Mitleid, bald verächtliches Lächeln, bald offener Tadel und Unwille.“
Medialer Protest
Am 8. Juni 1866 veröffentlichte in Süddeutschland das Augsburger Tagblatt eine Einsendung aus der Schweiz, genauer aus dem Nidwaldner Hauptort Stans. Gemeldet wurde Folgendes: „Am 2. Juni kam ein Fremder in sonderbarer Kleidung an. Seine Schriften bewiesen, dass er ein Zürcher sei, als den ihn auch einige Bürger erkannten. Kaum auf dem Dorfplatz angekommen, wurde er von der Polizei aufgegriffen und auf ihr Bureau gebracht, wo Herr Polizeidirektor Jann mit drei Landjägern zusammen war. Weil er hier nicht sprechen wollte, ergriffen die Polizeidiener auf Befehl ihres Chefs den Fremden und misshandelten ihn mit Haselruten der Art, dass er laut stöhnte. Nach vollbrachter Exekution wurde er weiter spediert. In Stans herrscht über den Vorfall laute Entrüstung.“
Die „Zürcher Zeitung“ berichtete dies: „Der Fremde, von dem in vorstehender Einsendung die Rede ist, kann niemand anders sein als Abraham Wettstein von Veltheim bei Winterthur. Er trägt die beschriebene Kleidung und spricht schon seit einer Reihe von Jahren kein Wort, gibt aber auf jede Frage sofort eine schriftliche Antwort. Ob er überhaupt nicht sprechen kann oder in Folge eines Gelübdes nicht will, wissen wir nicht. Das aber weiss Jedermann im Kanton Zürich, dass Wettstein zu den harmlosesten Naturen gehört, die existieren (er wäre nicht imstande auch nur ein Kind zu beleidigen) und ein wahrhaft edler Mensch ist, der nur für Andere lebt. Nicht nur hat er sein ganzes Vermögen den Armen seiner Heimat gegeben, sondern alles, was er aufbringt (er treibt einen Handel), verwendet er zur Unterstützung bedrängter Familien, die er aufsucht. Wenn das Erzählte wahr ist, so hat Herr Jann einen rohen, barbarischen Akt begangen, der die schärfste Ahndung verdient.“
Es wird untersucht…
Gemeinderat und Kirchenpflege Veltheim gelangten kurze Zeit später an die Polizeidirektion von Nidwalden und ersuchten um einen genaueren Bericht über die Misshandlung. Auch die Geschwister Wettsteins führten Klage gegen den Stanser Polizeidirektor wegen Amtsmissbrauch durch rohe Gewaltanwendung. Jann wiederum forderte zu seiner Rechtfertigung eine genauere Untersuchung des Vorfalles. Deshalb bat dann die Nidwaldner Regierung ihre Zürcher Kollegen, Abraham Wettstein genauer zu verhören und ihnen Bescheid zu geben. Zürich musste passen, Wettstein war nirgends auffindbar. Doch die Zürcher hofften, dass der Vorfall streng geahndet werde.
Polizeidirektor Jann rechtfertigte in Stans seine Handlungsweise damit, er habe Wettstein für einen Betrüger gehalten, der aus seinem Schweigen Nutzen ziehen wolle. Am 11. August 1866 übersandte die Regierung von Nidwalden das Verhörprotokoll an die beiden Schwestern Wettsteins und fragten diese an, ob sie noch weitere Untersuchungen wünschten oder ob man, wie es Wettstein selber möchte, sowohl auf eine Entschädigung als auch auf eine Bestrafung Janns verzichten und die Sache auf sich beruhen lassen solle. Die Zürcher Regierung ist schliesslich damit einverstanden, spricht aber gegenüber der Nidwaldner Regierung ihr Bedauern über das Geschehene aus. Hiermit wurde der Fall abgeschlossen, aber er blieb über all die Jahre hinweg aktenkundig.
Co-Autorschaft mit Peter Moser