Select Page

Die erste gesamtschweizerische Armee bestand nur fünf Jahre lang. Sie wurde 1803 von Napoleons Heer übernommen – trotz anders lautender Verträge. Dagegen gewehrt haben sich nur die Soldaten. Sie griffen zu den Waffen. Allerdings vergeblich. (Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Peter Moser *)

Hans Konrad Escher von der Linth notierte 1803 in einem Brief an seinen Freund, den Pfarrer und Pädagogen Johann Rudolf Steinmüller: «In Bern machen die helvetischen Truppen gross Spektakel, indem sie nicht nach Frankreich ziehen wollen; weil sie nur für die Schweiz engagiert wurden. Sie haben recht; aber dies hilft halt nicht viel auf dieser Erde.»

Es ist nur eine Fussnote in der Geschichte der Helvetik. Aber eine, die von der Ohnmacht der Soldaten erzählt, die vornehmlich aus den untersten sozialen Schichten stammten. Vertraglich hatten sich die Wehrmänner für den Dienst innerhalb der Landesgrenzen verpflichtet. Ein Beschluss der Helvetischen Regierung versprach ihnen, dass sie «in der helvetischen Legion eine befriedigende Besoldung und väterliche Fürsorge» erwarten könnten. Ihre Aufgabe war es, «die Grenzen Helvetiens zu beschirmen». Diese Truppe ist von den sogenannten helvetischen Halbbrigaden oder Auxiliarbrigaden zu unterscheiden, denen zwar Schweizer angehörten, die aber unter französischem Oberkommando standen. Sie leisteten für Napoleon auch im Ausland Kriegsdienste.

Das Ende der Helvetischen Republik

Die helvetische Truppe war von Anfang an bei der Bevölkerung nicht sonderlich beliebt. Faktisch unterstützte sie die französischen Besatzungstruppen, trieb die verhasste Kriegssteuer ein und kämpfte im Stecklikrieg 1802 gegen ihre Landsleute. So fehlten zusehends Freiwillige, anfangs Jahr 1803 hatte die Truppe nur noch 1605 Mann statt wie einst geplant 3000. Zugleich drängten die Kantone, die sich gegen die Franzosen wehrten, die Helvetische Regierung von Bern nach Lausanne ab. Die Regierung hatte überdies kein Geld mehr, um den Soldaten ihren Sold auszurichten, auch die Pensionen an die Familien der Gefallenen oder die Renten an Kriegsinvalide blieben aus. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, offene Rechnungen für Fleischlieferungen zu begleichen. Insgesamt schuldete der helvetische Staat seinen Militärangehörigen über 100‘000 Franken, was die im Bundesarchiv in Bern liegenden und von Johannes Strickler edierten helvetischen Akten zeigen.

In dieser Misere beauftragt die Helvetische Regierung das Finanzdepartment, Vorschläge zur Lösung der Probleme zu machen. Noch bevor es soweit war, wurde die Regierung aufgelöst und Frankreich inthronisierte den Freiburger Aristokraten Louis d’Affry als Landammann des Schweizer Staatenbundes; in dieser Funktion nahm d’Affry die als Wünsche getarnten Befehle aus Paris entgegen. Zudem sah die in Paris unterzeichnete neue Verfassung der Schweiz kein stehendes Heer mit Berufssoldaten mehr vor. Einzelne grössere Kantone planten jedoch, eigene kleine stehende Truppen aufzubauen. Dabei wurde erwogen, diese aus den Soldaten der helvetischen Truppe zu rekrutieren. An der kommenden Tagsatzung im Sommer sollte darüber entschieden werden.

Paris nutzt das Machtvakuum

Doch die Franzosen kamen mit ihrem Plan allen zuvor. Der in der Schweiz eingesetzte General Michel Ney hatte in einem Brief an Napoleon auf die von der Helvetischen Republik besoldete Truppe  aufmerksam gemacht und schlug vor, diese von der Schweiz nicht mehr benötigten Soldaten in die dezimierten helvetischen Halbbrigaden einzugliedern, also jene Truppen, die unter französischem Kommando standen und überall auf dem europäischen Festland eingesetzt werden konnten.  Michel Ney erhielt aus Paris bald Bescheid, die französische Republik übernehme die Soldaten «mit Vergnügen», wie Ney in seinen Memoiren festgehalten hat. Sie sollten, wie der Berner Patrizier und Historiker Johann Anton von Tillier (1792-1854) später notierte, bereits am 10. Mai 1803 ins Ausland abmarschieren. Wie es scheint, hatte Landammann Louis d’Affry nichts dagegen einzuwenden. Für ihn hatte sich ja damit auch die Frage erledigt, wie die helvetische Truppe bis zur Tagsatzung im Sommer zu finanzieren sei.

Die Nachricht von der Übernahme der helvetischen Truppe durch Frankreich verbreitete sich in der Schweiz schnell. Die «Zürcher Zeitung» schrieb am 25. Januar 1803, «dass Frankreich sich dieser regulierten Truppe annehmen und derselben künftiges Schicksal versichern und bestimmen werde.» Die Truppe werde dabei «nicht nur nicht aufgelöst, sondern im kompletten Zustand erhalten bleiben.» Am 14. Februar 1803 verkündete Napoleon offiziell, dass derjenige Teil der helvetischen Truppe, der nicht von den Kantonen übernommen werde, in die Halbbrigaden integriert werde.  

Schweigen, trotz Bedenken

In der Helvetischen Regierung war man sich durchaus klar, dass mit einer Übernahme der helvetischen Truppe durch Frankreich bestehende Verträge gebrochen werden. In einem Memorandum hielt sie fest, Zweck der Truppe sei die Aufrechterhaltung der Verfassung der Republik und der Schutz der gesetzlichen Ordnung im Vaterlande: «Kein Soldat oder Offizier kann gezwungen werden, in einen fremden Dienst überzutreten… Der helvetische Staat ist nicht befugt, Bürger zum Militärdienst aufzurufen und sie dann als Söldner einer fremden Macht zu überlassen.» Das so formulierte Memorandum legte die Helvetische Regierung jedoch am 26. Februar ad acta.

Als Louis d’Affry am 10. März 1803 feierlich als erster Landammann der Schweiz eingesetzt wurde, stand die helvetische Truppe bereits mit den französischen Truppen Spalier. In einem Brief an die abtretende Helvetische Regierung entschuldigte sich der Landammann für sein Vorgehen damit, dass die Truppe eine zu grosse Last für das Land geworden sei. Mit der neuen Regelung könnten viele Ausgaben fortan vermieden werden. Von den Kantonsregierungen war kaum Widerstand gegen diese Übergabe zu erwarten. Auch sie waren froh, die finanzielle Verpflichtung für die wenig geliebten Soldaten der ersten gesamtschweizerischen Armee los zu sein.

Wachsende Unruhe

Und die Soldaten, deren Dienst laut Vertrag auf die Schweiz beschränkt war? Sie kamen meist aus den untersten Schichten, hatten oft kein Auskommen und waren, wie der französische Kommandant Michel Ney in seinen Memoiren schrieb, auch Aussenseiter, «die jedermann vom häuslichen Herd verstiess». Sie wurden in keiner Weise zu ihren Wünschen oder Sorgen befragt.

Der Historiker Johann Anton von Tillier hielt in seinen Arbeiten später fest: «Sowohl wegen der hilflosen Lage, in welcher die helvetische Regierung sie gelassen, zum Teil auch wegen Sorge betreffend möglichen Übertritts in den französischen Kriegsdienst war die Stimmung bei den helvetischen Truppen angespannt»; Landammann d’Affry hatte die Truppe erst kurz vor der Übergabe in einer theatralischen Rede vor vollendete Tatsachen gestellt. Zudem hatte sich das Gerücht verbreitet, die Soldaten sollten in den französischen Kolonien in der Karibik eingesetzt werden, um die vom Gelbfieber hinweggerafften französischen Soldaten zu ersetzen und einen grossen Sklavenaufstand zu bekämpfen.

Louis d’Affry dürfte geahnt haben, dass die helvetische Truppe den Übergang in die französische Armee und damit das Los, ihre nächste Zeit auf den Kriegsschauplätzen Napoleons zu verbringen, nicht einfach akzeptieren würde. Er versprach den Soldaten, den noch ausstehenden Sold zu entrichten und sie mit neuer Kleidung auszustatten. Aber sie liessen sich nicht besänftigen. Am 26. März 1803, einige Tage vor dem befohlenen Abmarsch nach Frankreich, setzen sich die Soldaten in Bern zur Wehr. Davon zeugen zwei Quellen. Zum einen der Augenzeugenbericht des Aristokraten, Offiziers und Historikers Karl Ludwig Stettler, zum anderen die Botschaft, die der französische General Michel Ney kurz nach dem Vorfall an Landammann Louis d’Affry schickte.

Hinrichtung und 15 Jahre Kettenhaft

Was geschah also an diesem Abend? Die Soldaten hatten einen Vorschuss ihres Soldes erhalten und zechten bis weit in die Nacht hinein in den Wirtshäusern der Stadt Bern. Dann kehrten sie in die Kasernen zurück. Die Rechnung der Mächtigen schien aufzugehen. Aber noch vor Mitternacht ertönte in der ersten Kaserne die Trompete des Toggenburgers Joachim Bösch. Mit Trommelschlägen wurde darauf geantwortet. Das war das Zeichen zum Aufstand. Die Soldaten der helvetischen Truppe zogen gegen Zeughaus und Stadttor. Dabei wurde ein französischer Soldat tödlich getroffen, mehrere erlitten Verletzungen. Aber die Truppe war schlecht vorbereitet und sah bald ein, dass sie chancenlos war gegen die vor Ort anwesenden französischen Truppen. Die helvetischen Soldaten zogen sich nach einer längeren Diskussion schliesslich zurück.

Erreicht hatten sie etwas, was sie wohl nicht erwarten durften: Die Berner Bevölkerung nahm, wie Zeitzeuge Karl Ludwig Stettler berichtete, Anteil an deren Schicksal, weil sie «wie Sklaven den Franken überlassen werden» sollten. Das änderte jedoch nichts. Am nächsten Tag schon wurde jener Soldat, der den Franzosen erschossen hatte, nach der Verurteilung durch ein eilends einberufenes Kriegsgericht auf dem Waisenhausplatz hingerichtet. Auch der Trompeter Joachim Bösch wurde zum Tode verurteilt. Ein Revisionsgericht ermässigte wenig später die Strafe auf 15 Jahre Kettenhaft, wie die Zürcher Zeitung am 1. April 1803 schrieb.

Von Joachim Bösch weiss man dank eines Schreibens des Landammans auch, dass die Gemeinde Alt St. Johann sich für seinen Bürger eingesetzt hatte. Sie bat, «in Rücksicht seiner sonst guten Aufführung und den traurigen Umständen, in welchen sich seine Eltern befinden, die ganze Strafzeit möchte nachgelassen werden».  Landammann d’Affry antwortet am 1. Juni 1803 ablehnend.

Am 27. März 1803, am Tag nach dem Aufstand, ging alles sehr schnell. Schon am Mittag mussten die Truppen abmarschieren. Als an der Grenze zu Frankreich der ausstehende Sold ausbezahlt wurde, nutzen dies viele Soldaten, ihrem Schicksal zu entkommen. Es desertieren so viele Soldaten, dass sich Landammann Louis d’Affry gezwungen sah, Fahnenflüchtige mit einem Erlass vor rigoroser Strafverfolgung zu warnen – und dies, obwohl sie eigentlich im Recht waren und Frankreich sie zu einem Einsatz zwingen wollte, der vertraglich nicht vorgesehen war.

Wichtigste Quellen:

Missivenbücher des Landammanns der Schweiz (Bundesarchiv Bern).
Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798-1803).
Aus den Erinnerungen Karl Ludwig Stettlers, Neues Berner Taschenbuch Band 32 (1926).
Tillier, Geschichte der Helvetischen Republik, Band 3, 1843.
Tillier, Geschichte der Eidgenossenschaft unter der Herrschaft der Vermittlungsakte Band 1, 1846.

* Peter Moser, Amsteg, hat während 50 Jahren die Zeitschrift «Information Philosophie» herausgegeben und stöbert gerne in Archiven.

(Neue Zürcher Zeitung, 23. Januar 2024)