Select Page

Tonnenweise Kristalle haben Haslitaler Strahler vor 150 Jahren aus einer Kluft beim Tiefengletscher im Kanton Uri geholt.

Die grössten bekannten Klüfte der Schweizer Alpen liegen auf einer ziemlich geraden Linie. Sie verläuft von Südwesten nach Nordosten: Tiefengletscher, Planggenstock, Sandbalm, Pfaffensprung. In diesem Gebiet dominiert der Aaregranit des Aarmassivs. Er ist bekannt für grosse Klüfte – handfeste geologische Gründe also erklären die Linie und die Anziehungskraft der Region für Strahlerinnen und Strahler.

Die grosse Kluft, aus der die Berner Oberländer im Sommer 1868 tonnenweise Kristalle aus dem Berg geholt haben, ist heute unter Schutz gestellt – man spricht von der «Berner Kluft» oder den «Berner Klüften». Unweit dieser historischen Fundstelle sollen Strahler eine neue Kluft geöffnet haben. Ist sie gleich ergiebig wie die alte? Die nächsten Monate oder Jahre werden es zeigen.

Ein Zufallsfund

Peter Sulzer, Bergführer und Strahler aus Guttannen im Haslital, stiess 1867 eher zufällig auf die Kluft. Er hatte, zusammen mit seinem Sohn Andreas, zwei Berner Alpinisten und Forscher von der Trifthütte über den Rhonestock zum Tiefengletscher und zur Furka geführt. Bei einer Pause auf dem Gletscher, so die Berichte, sah Peter Sulzer ein Quarzband am Gletschhorn, rund 30 Meter über dem Eis. Zwei Wochen später – es ging auf den Winter zu – erkundeten Vater und Sohn das Band in der Felswand genauer und fanden erste Kristalle.

1868 war dann das Jahr, das in die Geschichtsbücher einging und die Guttanner Strahler besonders glücklich machte. Das kam so. Andreas Sulzer zog mit ein paar Kollegen los, sie erkletterten die Wand und machten bei dem Quarzband erst nur kleine Funde, bargen dann aber einen 7,5 Kilogramm schweren Rauchquarz. Im August sprengten sie ein Loch, das den Zugang zu einem grossen Hohlraum eröffnete. Die Kluft war schliesslich sechs Meter lang, vier Meter breit und bis zu zwei Meter hoch. Sie fanden darin sehr dunkle Rauchquarze, sogenannte Morione, die damals wie heute besonders gesucht sind. Zudem gab es fast nur grosse Stücke. Einzelne Spitzen waren bis zu 150 Kilo schwer und über einen Meter lang.

Die Kluft erwies sich als sehr ergiebig. Insgesamt holten die Berner über 14 Tonnen Kristalle heraus. In den Berichten heisst es, dass bis zu 70 Mann an der radikalen Ausbeutung beteiligt waren. Abtransportiert in den Kanton Bern wurden die Kristalle auf Umwegen. Zwar hätten die Guttanner die Kristalle über die vor kurzem erstellte Furkastrasse verfrachten können, aber sie wählten den mühsamen Weg über Gletscher und unwegsame Grate: Die Haslitaler Strahler und ihre Helfer wollten nicht, dass man im Kanton Uri Wind von der Sache bekam. Ihnen war klar, dass das Gebiet am Gletschhorn und der Tiefengletscher der Korporation Ursern gehörten, der grossen Landbesitzerin im Urserntal. Ihr Gebiet reicht vom Oberalp zum Gotthard und der Furka, von Andermatt über Hospental bis Realp. Seit dem 13. und 14. Jahrhundert gab es klare Regelungen für die Allmenden und Weiden, das wussten die Berner «Plünderer» genau.

Die Guttanner aber holten so viele Kristalle aus der Kluft, dass ihnen die Umwege schliesslich zu aufwändig wurden und sie schleppten die Ware entlang der Strasse über die Furka hinunter in Wallis und ins Haslital, einfach hinaus aus dem Kanton Uri. Das blieb nicht unbemerkt. Die Urschner Behörden drohten mit Exportverbot und Beschlagnahmung. Inzwischen aber hatten die Guttanner das halbe Dorf mobilisiert und rasch gearbeitet, sodass die ausgerückten Landjäger nur noch drei Spitzen sicherstellen konnten. Schliesslich einigte man sich auf einen Handel: Die Korporation Ursern erhielt eine stattliche Summe für die Kristalle, alles Material ging aber an die Berner und ihre Unterhändler.

Das Geschäft

Von den 14 Tonnen Kristall, die geborgen wurden, ist vieles verschwunden. In einer Berner Zeitung wurde 1868 beispielsweise ein Verkaufsinserat platziert. Es hiess dort: «Schöne, schwarze, geschliffene Kristalle vom Tiefengletscher, als Colliers, Bracelets, Broschen und Ohrringe in feinster Qualität zu haben.» Der Verkäufer war ein Goldschmied an der Spitalgasse in Bern.

Die Guttanner Strahler, die in einer Genossenschaft organisiert waren, wollten ihre Kristalle vergolden und begannen sogleich mit dem Verkauf ihrer Ware. Sie boten sie etwa deutschen und französischen Schleifereien an, doch sie konnten nicht die erhofft hohen Preise erzielen; die Qualität der Kristalle überzeugte die Schleifereien offenbar nicht ganz. Das hatte sein Gutes, denn so konnten die Museen zu moderaten Preisen diverse Stücke für ihre Sammlung erwerben. Viele einzelne Spitzen erhielten Namen wie Grossvater, König, Diener oder Karl der Dicke. Laut einem Inventar, das Ende 1868 erstellt wurde, waren 140 Spitzen mit einem Gewicht von gut 5 Tonnen sogenannte Museumsstücke, fast 8 Tonnen galten als Schleifware und 1.5 Tonnen waren schon verschwunden.

Die Naturhistorischen Museen der Stadt Genf und in Bern haben heute noch am meisten Kristalle. In Genf sind es 30 Quarzspitzen und rund 620 Kilo, in Bern lagern fast 700 Kilogramm Kristall vom Fund am Gletschhorn. An beiden Orten wurden die Spitzen zu Gruppen arrangiert und sind permanent zu sehen. Aber auch in den Museen in Aarau, Basel, Winterthur, St. Gallen, an der ETH Zürich und im Alpinen Museum Bern sind Kristalle vom Tiefengletscher aufbewahrt. Vom historischen Fund sind zudem im Ausland diverse Kristallspitzen vorhanden, so in Wien, Stockholm, Budapest oder in der bekannten Mineralienausstellung im sächsischen Freiberg. «Mehr als ein Drittel der 140 besten Stücke ist noch vorhanden», schrieb Edwin Gnos, Kurator am Naturhistorischen Museum der Stadt Genf, jüngst in einem Artikel in der Zeitschrift «Schweizer Strahler».

Das Nachbohren

Uri aber ging ziemlich leer aus. Auch im Haslital scheinen keine Kristalle vom Fund vor 150 Jahren mehr vorhanden zu sein, zumindest nicht offiziell. Im Museum der Landschaft Hasli in Meiringen etwa sind zwar Kristalle zu sehen, aber von Gletschhorn/Tiefenbach-Kristallen ist nichts bekannt. Auch der Strahler Kaspar Fahner weiss von keinen Kristallen des historischen Fundes, die im Haslital aufbewahrt sind. Er kennt die Berner Klüfte besonders gut. Das kam so.

Irgendwann scheint es die Urschner gewurmt zu haben, dass ihnen von dem Fund nichts Grossartiges geblieben ist. «Wenn der Honig noch irgendwo im Berg ist, dann muss es bei dieser Kluft von damals sein», orakelte ein Strahler. Im August 1992 rückte die Korporation also mit eigenen Leuten aus, flog Bohrmaschinen zum Gletschhorn und sprengte. Mit dabei war auch Kaspar Fahner Die Ernüchterung stellte sich nach vier Tagen ein. Neue Klufttaschen konnten keine gefunden werden, die Quarzader endete derb im Fels. Im Schutt aber, den die Berner 1868 zurückgelassen haben, fand man einen drei Kilo schweren Kristall und einige Bruchstücke. Sie beeindrucken durch ihre Grösse und sind von historischem Wert. Die Kristallscherben lagern im Gebäude der Korporation Ursern in Andermatt.

Der «Raub» der Kristalle durch die Berner aber hat Folgen bis heute. Die Korporation im Urserntal beschloss kurz nach 1868 rechtlich verbindlich, dass nur noch Kristalle auf Korporationsgebiet suchen darf, wer ein Patent gelöst hat. Das gilt bis heute. In der Verordnung über die Gewinnung von Kristallen, respektive Mineralien steht: «Mineralien dürfen nur mit Bewilligung des Talrates Ursern gewonnen werden. Dieser stellt hierfür ein Patent aus.»

Grundsätzlich kann jede und jeder ein solches Patent beantragen, ausser er hat in den letzten fünf Jahren gegen die Strahlerverordnung verstossen oder sich nicht an Weisungen der Aufsichtsorgane gehalten. Das Patent kostet zwischen 190 und 950 Franken pro Jahr und ist für einen Bürger der Korporation Ursern deutlich günstiger als für einen Auswärtigen. Was die Stahlerinnen und Strahler dann aber finden, können sie behalten, ausser ein Fund ist mehr als 1000 Franken wert. In einem solchen Fall ist eine zusätzliche Gebühr zu entrichten.

Berner Oberländer, 13. November 2018