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Das Gotthardmassiv erhält ein weiteres Loch. Man wird viel Gestein herausschaffen und grandiose Kristalle bergen. Dann fahren die Menschen in Autos und Lastwagen durch den Berg. Er wird dadurch noch ein bisschen bedeutungsloser werden.

Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg, erklärte Novalis einst der Welt. Also hinein in die Hölle. Sie ist lärmig, dreckig, dunkel, nass, warm, meist eng, eher unberechenbar. Und es riecht nach Sprenggasen. Die Arbeiter dort drinnen suchen nichts, sie räumen nur hinaus, was sie weggesprengt, weggebohrt und weggefräst haben. Die Natur hat nicht vorgesehen, dass der Mensch in den Innereien eines Bergs herumfuhrwerkt.

Verborgene Schätze

Der Tunnel, der bei Göschenen in den Berg getrieben wird, soll dem Strassenverkehr dienen. Zweite Röhre, Gotthard. Kein anderes Bergmassiv hat so viele Löcher wie die Felsen hier: zwei Eisenbahntunnels, bald zwei Strassentunnels, Lüftungsstollen, Kraftwerksstollen, Kavernen, weitläufige unterirdische Anlagen des Militärs. Die Gesteine, durch die sich Mensch und Maschine Richtung Airolo fressen, haben hübsche Namen wie Lamprophyr, Syenit, Glimmerschiefer, Hornblende- und Augengneise, Amphibolit, Dolomit, Serpentin, Pegmatit. Die Arbeiter werden auch auf kleine und grössere Hohlräume stossen. In diesen Klüften sind Bergkristalle und andere Mineralien über Tausende von Jahren herangewachsen. Verborgene Schätze, höllisch schön und rar.

Das herausgebrochene Gestein im Urner Teil des Tunnels gehört dem Kanton Uri. Das ist im sogenannten Bergregal geregelt. Auch die Kristalle gehören dem Kanton, falls sie überhaupt vor dem Sprengstoff, den Maschinen und diebischen Mineuren gerettet werden können. Den Auftrag zur Rettung hat Peter Amacher, weit herum bekannter Strahler, Geologe und jetzt einmal mehr Mineralienaufseher bei einem Tunnelbau. Bereits nach einigen Metern im Fels haben er und sein Team die ersten Kristalle holen können. Sie glänzen zum Teil absolut wunderbar, sind manchmal komplett durchsichtig und einige zeigen in ihren Strukturen, dass tektonische Veränderungen sie gebrochen hatten, bevor sie ganz auskristallisiert sind.

Bekannte Schichten

Rund 16 Kilometer lang wird der zweite Strassentunnel sein. Was die Arbeiter im Innern des Bergs geologisch antreffen werden, ist grob bekannt. Dies, weil die zweite Röhre parallel zur ersten verläuft und beim Bau der ersten das geologische Profil genau aufgezeichnet worden ist. Zudem hat die Mineralienaufsicht damals genauestens notiert, auf welchen Tunnelmetern sie Klüfte gefunden hatten. Davon profitiert Peter Amacher, denn so kennt er jene Zonen ziemlich genau, wo er besonders oft nachschauen muss, ob eine Kluft durch eine Sprengung geöffnet oder von der Bohrmaschine angefahren worden ist. Er wird weitere Bergkristalle herausholen, auch die besonders gesuchten in sich gedrehten Gwindel, ebenso Mineralien wie goldig glänzender Pyrrhotin, rosafarbener Fluorit, Goethit, Adular, Beryll oder Zirkon. Beim Bau des Gotthard-Basistunnels hatte Peter Amacher in den Innereien des Bergs über 50 verschiedene Mineralien entdeckt. Stücke, die ohne Tunnelbau niemals ein Mensch zu Gesicht bekommen hätte. Prächtige Souvenirs für die Vitrine.

Ein aus dem Innern des Gotthards geborgener Bergkristall. Foto Thomas Bolli

Die Mineure und Mineralienaufseher werden auch auf warmes Wasser treffen, das in den Innereien der Gneis-, Schiefer- und Granitschichten fliesst. An der Oberfläche zeigen sich diese Gesteinsschichten in den ungefähr gleichen Abständen wie im Tunnel, denn sie liegen nicht horizontal wie bei einer Schwarzwäldertorte, sondern sie stehen fast senkrecht. Das heisst, man trifft nicht nur in den Innereien des Gotthardmassivs auf Klüfte, die Mineralien wie in Schatzkammern aufbewahren, sondern auch in der ausgekühlten Haut der Erdkugel. Aber hier muss der Strahler suchen und die Zeichen in der Landschaft lesen können, um fündig zu werden. Kein einfaches Geschäft, das nur wenige verstehen, und das mit langen Anmarschwegen verbunden und nicht selten gefährlich ist.

Vergessener Chuesack

Zurück zum Loch. Der neue Tunnel wird die Reise durch die Alpen nochmals beschleunigen. Zur Strafe geht die Landschaft am Gotthard verloren und mit ihr all die Gerüche von Bergwiesen mit wildem Thymian, feuchtkalten Steinen, Nebelschwaden, Kuhweiden. Man wird auch die glatten Granitwände in der Schöllenen, die wilden Runsen und unglaublich stotzigen Flanken nicht sehen, wo sich die Gämsen mit einer Leichtigkeit bewegen, die entzückt. Man vergisst auch die alten Steinbrücken über die Reuss, bei denen einmal sogar der Höllenfürst mitgebaut haben soll, oder die eindrücklichen Hospiz-Bauten auf der Passhöhe. Und keine und keiner im Tunnel wird an so bunt benannten Stellen vorbeikommen wie der Sälenplangge, dem Bluemenhüttenboden, dem Mättelistutz oder dem Chuesack. Die Landschaft am Gotthard wird für jene, die 1000 oder noch mehr Meter unter dem Pass durchfahren, anonym, unwichtig und schliesslich inexistent werden.

Und was erzählst du nach einer Fahrt durch den Berg? Von der Begegnung mit 16 Kilometern Beton und künstlichem Licht? Oder weisst du gar nicht, wo du fährst und bist in deiner Geräuschwolke einfach nur schneller? Tunnels begünstigen die Weltvergessenheit, ja, das tun sie wohl.

Das alte Hospiz auf dem Gotthard, umgebaut von Miller & Maranta. Foto: Thomas Bolli

(kultz.ch, Juni 2022)